Gerd Leonhard: „Die Technologie verändert uns als Menschen.“
Gerd Leonhard analysiert, wie die Digitalisierung die Wirtschafts- und Lebenswelt verändert. Der bekannte Futurist im Interview.
Musiker, Produzent, Zukunftsgestalter
Gerd Leonhard gehört zu den international führenden Futuristen. Er ist bekannt für seine provokativen und inspirierenden Präsentationen und Zukunftsthesen. Er verbrachte 17 Jahre in den USA, wo er die digitale Zukunft als professioneller Musiker und Produzent, später als Internetunternehmer erlebte und mitgestaltete. Beim Van Innovation Campus von Mercedes-Benz im September trat er als Keynote Speaker auf. Im Interview analysiert er die Megatrends der nächsten Jahre – und die Auswirkungen, die sie auf Mobilität und Transport haben werden.
Mit externen Augen sehen
Herr Leonhard, eine Ihrer Thesen lautet: „Die Menschheit wird sich in den nächsten 20 Jahren stärker verändern als in den letzten 300.“ Welche Veränderungen meinen Sie konkret?
Sicherlich hat die Menschheit schon viele Veränderungen, Umbrüche und Umwälzungen erlebt – aber noch nie in dieser Geschwindigkeit und Komplexität. Es gibt zurzeit etwa 20 Themen und Trends, die sich grundlegend auf unser Leben auswirken werden. Zu den wichtigsten gehört die künstliche Intelligenz. Es geht nicht mehr allein darum, dass wir Maschinen nutzen, um unsere Arbeit zu erleichtern. Die Technologie verändert uns als Menschen. Wir nutzen externe Gehirne, die für uns denken. Wir nutzen externe Augen, die für uns sehen. Wir nutzen Computer als Gesprächspartner und geben ihnen Anweisungen. Automatisierung, Robotisierung, Virtualisierung – all diese Dinge passieren im gleichen Zeitraum und in exponentieller Entwicklung. Und sie werden größere Veränderungen mit sich bringen, als sich heute abschätzen lässt.
Computer als Arzt und Umweltschützer
In welchen Lebensbereichen werden wir die Auswirkungen dieser Trends am deutlichsten spüren?
Grundsätzlich können Sie davon ausgehen, dass alles, was digitalisiert werden kann, auch digitalisiert werden wird. Computer werden in der Lage sein, zu lernen. Sie werden Dinge erledigen, die vorher nur Menschen konnten, zum Beispiel komplexe Muster erkennen oder Regeln für unregelmäßige Sachverhalte erstellen. In fünf bis sieben Jahren werden Computer eine größere Kapazität haben als das menschliche Gehirn und bestimmte Probleme besser, schneller und effizienter lösen, als der Mensch es könnte. Sie werden medizinische Diagnosen stellen und Krankheiten behandeln, den Verkehr steuern, den Umweltschutz verbessern und vieles mehr.
Intelligent dank Vernetzung
Vernetzung, Digitalisierung und künstliche Intelligenz haben gewaltigen Einfluss auf den Verkehr, also auf Transport und Mobilität. Wie wird die Mobilität der Zukunft Ihrer Meinung nach aussehen?
In etwa zehn Jahren wird es weltweit circa 380 Millionenstädte geben. Um die
Transportbedürfnisse in diesen urbanen Zentren erfüllen zu können, müssen wir
die Beförderung von Menschen und den Transport von Waren intelligenter,
effizienter und nachhaltiger organisieren. Dazu können Vernetzung, Robotisierung
und künstliche Intelligenz entscheidend beitragen. Ich bin zum Beispiel
überzeugt, dass der Verkehr in diesen Metropolen und -regionen zu 95 Prozent von
automatisierten Fahrzeugen bestritten wird.
Sportschuhe? Einfach zu Hause ausdrucken
Welche Lösungen und Impulse können technologische Innovationen über das autonome Fahren hinaus liefern?
Viele Waren und Teile werden wir nicht mehr transportieren müssen. Schon heute stehen an vielen Flughäfen 3D-Drucker von FedEx und UPS und drucken Maschinenteile für Flugzeuge. Für den Masseneinsatz sind 3D-Drucker heute noch zu teuer, aber das wird sich in wenigen Jahren ändern. Viele Produkte, die heute noch bestellt und geliefert werden, drucken wir dann einfach zu Hause oder im nächsten Einkaufszentrum. Darüber hinaus entstehen schon heute vielerorts intelligente Shared-Mobility-Konzepte und Modelle, die Straßen-, Schienen- und Individualverkehr intelligent miteinander vernetzen.
Die Illustration zeigt verschiedene Dinge, die in dieser Form als Rohling aus
dem 3D-Drucker kommen könnten: Kamera, Stift, Kopfhörer, Schreibtischlampe.
Wichtig ist daher holistisches Denken. Es geht nicht mehr um die Transportart
oder das Transportmittel, sondern darum, perfekte und individuelle
Mobilitätsservices zu entwickeln.
Der Kunde will Mehrwert und Service.
Was bedeuten diese Entwicklungen für die Automobil- und Transportbranche?
Für die Automobil- und Transportbranche wird es – wie für alle anderen Branchen auch – darum gehen, nicht mehr allein über ihre Kernprodukte nachzudenken, sondern individuelle Services zu entwickeln. Sie müssen ihren Kunden Mehrwerte, added values, bieten. Es wird in zehn Jahren nicht mehr um das Autofahren gehen, wie wir es heute kennen, sondern um Mobilitätsservices, die die individuellen Bedürfnisse der Kunden erfüllen. Und für bestimmte Arten von Service werden viele Kunden bereit sein, mehr zu bezahlen. Deswegen ist das holistische Plattformdenken das gewinnbringende Modell der Zukunft.
Wenn das Auto das Hotel bucht.
Welche Services und Dienstleistungen könnten das konkret sein?
Da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Im Transportbereich wird es um Schnelligkeit und Effizienz gehen. Bei Privatkunden spielen wahrscheinlich unterschiedlichste Motive eine Rolle. Der eine möchte maximale Bequemlichkeit und direkt an seinem Zielort ein Hotel und eine Restaurantreservierung, ohne sich selbst darum kümmern zu müssen. Für den anderen zählen optimale Arbeitsbedingungen im Auto. Und der Nächste möchte ein Auto zur Verfügung haben, wenn er es braucht, ohne es kaufen zu müssen, Stichwort Pay-per-Use. Es wird spannend sein, zu beobachten, welche Ideen in diesem Bereich entstehen – und welche sich durchsetzen.
Wettbewerb erhöht Innovationstempo
Ihre Präsentation beim Van Innovation Campus endete mit einem Zitat von David Bowie: „Die Zukunft gehört denen, die sie hören.“ Haben Sie das Gefühl, dass die Automobilbranche hört, was die Zukunft bringt?
Mehr als die anderen. In manchen Branchen, ob Banken, Versicherungen oder Pharma, ist das Zukunftsdenken noch nicht angekommen. Und ich bin überzeugt, dass in diesen Bereichen viele Unternehmen den Wandel nicht überleben werden. In der Automobilbranche ist das anders. Was dort vor einigen Jahren noch Science-Fiction war, ist heute bereits Realität geworden, zum Beispiel autonomes Fahren. Zudem engagieren sich neue Akteure am Markt. Das verändert den Wettbewerb und erhöht das Innovationstempo. Außerdem haben Automobilhersteller den Vorteil, dass Technologie, anders als in anderen Branchen, ihr Metier ist. Von daher ist die Automobilindustrie besser für den Wandel und die damit verbundenen Herausforderungen aufgestellt.